Endlich ist es ruhig! Nach gut 20 km Holperstraße von der Ortschaft Tjåmotis, entlang des Tjaktjajaure bis zum Strassenende südlich des Panoramabergs Hårås an der Brücke über den Sito-Fluss ist es mit der Autofahrerei erst einmal vorbei. Helena und Björn, unsere Freunde aus Kvikkjokk, nehmen den VW-Bus mit zu sich nach Hause, wo auch wir in gut zwei Wochen eintreffen wollen. So ganz sicher sind wir da allerdings noch nicht, schließlich ist es bereits Anfang Oktober und die beste Zeit für Sarek-Wanderungen für dieses Jahr schon vorbei.
Bisher zeigt sich das Wetter jedoch noch von seiner besten Seite und wir spazieren bei strahlendem Sonnenschein den ausgetretenen Weg am Stausee entlang.
Wie das halt so ist am Beginn einer längeren Wanderung, zwickt der Rucksack noch hier und da, die Schuhe müssen noch nachgebunden werden und überhaupt sind die Klamotten viel zu warm. So zieht sich die eigentlich nur etwa 10 km lange Strecke bis zum Bootsanleger am See Laitaure ewig in die Länge. Die Landschaft reißt hier auch keinen vom Hocker, nur ab und zu spitzt schon der Gipfel des Skierfe über die blattlosen Birken und ermuntert zum Weiterlaufen.
In den Sommermonaten bietet ein Sami einen Shuttleservice über den Laitaure bis nach Aktse an. Jetzt liegen die Boote fest verzurrt am Ufer unter einer Plane und warten auf den ersten Schnee.
Uns würde eher ein kühles Bad locken, aber die Sonne sinkt schön langsam dem Horizont entgegen und so kümmern wir uns lieber um ein ebenes Plätzchen für unser Zelt.
Nach gut einem Kilometer auf einem wackeligen Bohlensteg findet sich ein solches direkt am Seeufer. Nach dem üblichen Gesuche beim ersten Mal Rucksackausräumen und Zeltaufstellen der Tour liegen Silke und ich beim Abendessen in den letzten warmen Sonnenstrahlen. Es sollten nicht nur die letzten dieses Tages sein...
Das eintönige Geräusch von Nieselregen weckt uns am Tag darauf. Nach einem ausgedehnten Frühstück und einigen Verrenkungen beim Rucksackpacken im Zelt geht es weiter in Richtung Sarek.
Der Weg führt recht eintönig durch einen Fichtenwald, immer an der Telefonleitung entlang. Die niedrigen Wolken lassen heute auch keine Ausblicke in Richtung Rapadalen mehr zu. Kurz nach Mittag stehen wir dann in Aktse und beschließen, dass wir diese letzte Gelegenheit zum Überzelttrocknen noch einmal nutzen wollen und nisten uns in der STF-Hütte ein.
Während Silke das Innere der Hütte mit dem Zelt verhängt, bastele ich mir für meine Testschuhe eine neue Einlage aus Isomattenschaum. Der Schuh in allen Ehren aber diese Einlage bringt mich um!
Kurz vor der Dämmerung bessert sich das Wetter ein wenig und einzelne, flache Sonnenstrahlen lassen Nebelgeister am Tjakkeli entlang durch das Rapadalen tanzen. Der letzte Eintrag im Hüttenbuch ist schon gut drei Wochen her. Weiter vorne entdecke ich den Namen von Outdoor Haus- und Hoftester Frank Wacker.
Der nächste Morgen bringt neben meinem 30. Geburtstag auch jede Menge Wolken und einen satten Anstieg gleich hinter den Hütten mit sich. „Man merkt Dir das Alter schon an“, frozelt Silke als ich mit meinem 40-Kilo-Rucksack ein wenig außer Atem oben an der Abzweigung zum Skierfe ankomme. Aber über das Gepäck jammern zählt nicht, immerhin sind gut 12 kg davon Fotoausrüstung – und schließlich sind wir zum Fotografieren unterwegs!
Nach einer kurzen Pause führt uns der jetzt immer schlammiger werdende Weg in Richtung Westen zur Grenze des Nationalparks hin. Ab und zu erhaschen wir einen kurzen Blick auf die glitzernden Schwemmebenen des Rapa-Flusses, der sich tief unter uns in den Laitaure ergießt. Seit 1996 zum UNESCO-Welterbe Laponia erklärt, war das Rapadalen kurz zuvor noch der Gefahr ausgesetzt, in einem neuen Stausee zu ertrinken.
Auf dem Bergsattel des Sliengetjåhkkå blinzeln ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke und lassen das Fjäll rostbraun leuchten. Wir nutzen die Gunst der Stunde und legen eine kurze Pause ein. Eine Herde Rentiere bemerkt uns scheinbar nicht und kommt immer näher. Erst knapp 50 Meter von uns entfernt werden einige von ihnen misstrauisch und bleiben stehen. Der Chef der Herde ist jedoch zu dieser Jahreszeit viel zu beschäftigt, um sich auch noch mit ein paar zu spät gekommenen Touristen zu kümmern und ignoriert uns einfach. Schließlich ziehen alle wieder weiter, die Rentierherde in Richtung Sito und wir in Richtung Skierfe.
Weil weder Silke noch ich die schweren Rucksäcke mit bis auf den Gipfel schleppen wollen, bauen wir schnell auf dem Sattel zwischen Skierfe und Bassoaivve das Zelt auf. Kaum habe ich den letzten Hering im Boden versenkt, senkt sich auch die Wolkendecke erneut ab.
Wir können gerade noch die Kompasspeilung für den nächsten Morgen durchführen und schon sitzen wir vollständig in der Suppe. Nichts ist es mit der Aussicht! Sogar beim Wasserholen hat man Probleme das Zelt noch zu sehen – und das ist keine 30 Meter entfernt und zudem knallrot!
Der folgende Tag wird zur ersten echten Bewährungsprobe. Sicht und Wetter hatten sich eher noch verschlechtert als verbessert und so bleibt uns nichts anderes übrig als dem Kompasskurs zu folgen und mit dem Höhenmesser an relativ eindeutigen Geländemarkierungen zu kontrollieren. Schon die Querung an der Schulter des Bassoaivve entlang erweist sich als nicht ganz so einfach, wie es die Karte vermuten lässt. Langsam balancieren wir über glitschige Felsbrocken und überqueren einen Bachlauf nach dem anderen. Unterwegs lernen wir sehr schnell, dass überall wo kein Geröllfeld ist, die Schuhe im Sumpf untergehen.
Nachdem der erste Teil der Hochebene Jågåsjgaskaláhko überquert ist, müssen wir zum ersten Mal die Wanderschuhe gegen die Neoprensocken und Tevas eintauschen und den Ábbmojåhkå durchqueren. Eine stetige, kühle Brise macht das Ganze nicht unbedingt angenehmer.
Weiter geht es über heute irgendwie überhaupt nicht enden wollende Geröllfelder. Als wir den Tjålle an seiner Westseite passieren sind wir am „Ende“ der Landkarte angekommen. Jetzt müsste ich die Karte eigentlich nur aus der wasserdichten Hülle nehmen, anders falten und wieder hineinpopeln. Nachdem sich aber zufällig gerade auch der kleine Nachmittagshunger meldet, deuten wir das als Zeichen und suchen uns gleich einen Zeltplatz. Ein paar Meter weiter, gleich neben einer Rentierzüchterhütte bietet sich ein ebener Fleck an.
Ein Mauswiesel, das seinen Bau nicht weit weg vom Zelt hat, spielt mit uns Verstecken. Immer wieder kommt es bis auf Armlänge heran. Kaum habe ich jedoch mit der Kamera den richtigen Bildausschnitt gefunden, ist es schon wieder verschwunden und steckt seinen Kopf zwischen zwei anderen Steinen heraus. Als Krönung des Abends schauen neben einem einsamen Rentier auch noch einige Sonnenstrahlen vorbei.
Die ersten Kilometer nach dem Aufstehen flutschen im wahrsten Sinne des Wortes nur so dahin. Sumpf bis zu den Knöcheln und kaum fester Untergrund – da stört der einsetzende Nieselregen eigentlich kaum mehr.
Nach dem Erreichen der Passhöhe westlich des Alep Válak schräg nach Nordwesten absteigen bis die 1000 Meter Höhenlinie erreicht ist und dann immer nur auf dieser Höhe weiter – soweit die Theorie- geplant bei einer Tasse Kaffee mit warmen Füssen im Schlafsack. Leider hält sich die Praxis gar nicht an diese Idee. Schlagartig sind wir das Problem mit dem Sumpf los und springen über immer größer werdende Felsbrocken.
An der scharfen Einkerbung der Rinimjågåsj, der Schlucht eines Sturzbaches, der von einem Gletscher in der Nordabdachung des Vássjábkte dem tief unten liegenden Sitojaure entgegenrast, ist nun endgültig Schluß mit lustig. Wir müssten den Bach zwischen zwei Wasserfällen über ein Schneefeld queren. Einmal Ausrutschen hätte hier fatale Folgen, ganz egal ob man sich die Knochen bricht oder ersäuft.
Wir umgehen die Misere indem wir einige Höhenmeter opfern und sie nach der Querung mühsam wieder hinaufklettern. Sollten wir geglaubt haben, dies wäre schon alles, haben wir uns kräftig geirrt. Vor uns dehnt sich ein Geröllfeld mit glitschigen Felsbrocken aus, die zum Teil Zimmergröße erreichen.
Die Natur zeigt sich jedoch gnädig und senkt eine undurchdringliche Nebeldecke über das Ganze. Immerhin müssen wir jetzt nicht immer mit ansehen, wie langsam wir sind. Aber alles hat ja bekanntlich ein Ende und so läutet die nächste Bachquerung den (geplanten) letzten Abstieg des Tages ein.
Eine halbe Stunde später stellen wir unser Keron nördlich von Rinim sameviste auf. Die Landschaft präsentiert sich in einem beängstigendem schwarz-grau-braun Ton über dem bleischwere Wolken dahinziehen. Etwas weiter unten leuchtet das blau-grüne Wasser des Sitojaure, das sicher mindestens so kalt ist, wie es aussieht.
Heftige Windböen wecken uns als es gerade hell wird, aber immerhin regnet es nicht. Heute soll es durch das Pastavagge in Richtung Westen gehen. Dieses Tal wollte ich immer schon einmal laufen, nur war es mir im Winter immer zu gefährlich und trotz einiger Skitouren in dieser Ecke haben wir es im Sommer noch nie geschafft hierher zu kommen. Jetzt stehen wir am Taleingang über dem drohend die Abstürze und Gletscher des 1853 Meter hohen Ruopsoktjåhkkå thronen und haben ein mulmiges Gefühl. Das Tal soll Unglück bringen, sagen die alten Sami. Uns bringt es in erster Linie wieder den alltäglichen Nieselregen.
Tiefe Rinnen auf beiden Schluchtseiten zeugen von dem verheerenden Hochwasser während der letzten Schneeschmelze. Je weiter wir das Tal hinauf kommen, um so häufiger müssen wir reißende Seitenbäche durchqueren. Ohne unsere Neoprensocken wäre das eine ziemlich unangenehme Angelegenheit. So aber bleiben unsere Füße immer relativ warm und dies obwohl die Bäche selten mehr als ein paar hundert Meter seit ihrem Ursprung am Gletscher zurückgelegt haben.
Silke hat leider etwas unter den recht fotogenen Furten zu leiden, aber was macht man nicht alles für ein gutes Bild. Schließlich sind wir ja nicht nur zum Vergnügen hier!
An der „Engstelle“ zwischen den Spitzen des Ruopsokbákte und des Basstatjåhkkå ist mit 1066 Metern über dem Meer auch der höchste Punkt des Pastavagges erreicht. Nach einer weiteren eiskalten Furt direkt unterhalb des Alep Basstajiegna, des größten Gletschers im Tal, bietet sich ein topfebener Platz zum Zelten an. Das Wetter bessert sich zusehends und schon bald streichen die ersten noch zaghaften Sonnenstrahlen am Talgrund entlang. Knapp eine Stunde nachdem wir das Zelt aufgebaut und eingeräumt haben, verzieht sich die letzte Wolke und wir sitzen unter eisblauem Himmel in unsere Primaloft-Klamotten eingemummelt beim Abendessen und genießen die Lichtspiele der untergehenden Sonne. Vor dem westlichen Taleingang thront mächtig das noch angestrahlte Ruohtes-Massiv und die fünf vom Zelteingang aus sichtbaren Gletscher komplettieren das perfekte Panorama. Kurz bevor es dunkel wird, beginnt allerdings wieder Nebel das Tal heraufzusteigen. Schade – eigentlich haben wir uns auf eine klare, wenn auch kalte Nacht gefreut. Wie durch eine unsichtbare Hand gestoppt, bleibt die Nebelwand etwa 50 Meter unterhalb unseres Zeltplatzes stehen, und das auf beiden Seiten! Silke liegt schon im Schlafsack, während ich noch in der Apsis sitze um den Sternenhimmel zu bewundern.
Im Normalfall kann man wohl kaum jemanden bei Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt aus dem mollig warmen Schlafsack heraus, zurück in die kalten und feuchten Schuhe locken – aber es gibt Ausnahmen!
Plötzlich, von einem Moment zum nächsten, brennt der Himmel! In allen möglichen Farben flackert Polarlicht über die grandiose Silhouette der Felsnadeln, die das Zelt umgeben. Das obere Ende der wehenden Fahnen in tiefem Violett, darunter strahlendes Rot und als Abschluss gelb und grün. Da wird man natürlich als Fotograf etwas hektisch, vor allem, wenn die Kameraausrüstung für die Nacht schon besonders gut verstaut worden ist. Kaum ist die FM-2 mit dem 20 mm Nikkor auf dem Stativ montiert, stellen sich schon die nächsten Probleme.
Dieses Mal ist das Polarlicht unglaublich schnell und wechselt die Talseiten von einem Augenblick zum anderen. Da kann ich halt nur auf viel Glück hoffen.
Das zweite Problem bereitet mir aber viel größere Sorgen: die Luftfeuchtigkeit ist durch die nahe Nebelwand so groß, dass sich auf der Frontlinse des Objektivs sofort Kondenswassertropfen niederschlagen.
Mit der Zeit nehmen die grünlichen Farbtöne überhand und die Position der hellsten Lichterscheinungen verlagert sich relativ stabil nach Osten und rahmt dabei die Gipfelpyramide des Basstatjåhkkå ein. Eine Stunde später beginnt die Nebeldecke langsam weiter anzusteigen und bereitet dem Farbenspektakel ein schnelles Ende.
Nach einem ausgedehnten Frühstück im Schlafsack laufen wir bei ganz annehmbarem Wetter dem Talausgang des Pastavagges entgegen. Immer wieder passieren wir traumhafte Zeltplätze, leider können wir nicht an jedem das Zelt aufbauen.
Erst der aus dem Soabbevágge kommende Gletscherbach holt uns wieder zurück auf den Boden der Tatsachen: Schuhe und Socken ausziehen, Neoprensocken und Tevas anziehen und die Kneippkur kann losgehen!
Obwohl wir am Vormittag flott wegkommen und ein ganz ordentliches Tempo halten können, haben wir nach der Mittagspause am Bielajávrátja einen ordentlichen Hänger und kommen irgendwie kaum mehr vom Fleck. Einmal ist es Weidendickicht das den Weg dicht macht, ein andermal sind es tiefe Sumpfpassagen, die uns eine Wegführung wie in einer Achterbahn aufhalsen.
Nach einer eiskalten Furt durch den Gletscherbach Tjågnårisjågåsj lädt uns ein weiches, ebenes und vor allem trockenes Fleckchen ein, gleich wieder unser Zelt aufzuschlagen, obwohl es erst früher Nachmittag ist. Dafür bleibt noch viel Zeit zum Faulenzen, Kaffeetrinken und Fotografieren!
Imposant schlängelt sich der Rapaätno durch das Tal tief unter uns. Die markanten, vergletscherten Berge des Ruohtes-Massivs wirken fast drohend. Da hinüber wollen wir morgen – schau ma a moi, wia ma so sogt!
Als erstes bekomme ich aber einen bösen Blick von Silke, weil ich mit Kamera und Stativ in der Gegend herumspringe, anstatt mich um das Abendessen zu kümmern! Böses Foul! Kaum sind wir nach einer herrlichen Mousse au Chocolate in unseren Schlafsäcken verschwunden, erklingt ein wohlbekanntes Geräusch. Leichter Nieselregen – na ja, bis der Rapaätno bei uns heroben ist, muss schon noch einiges passieren.
Draußen kübelt es mittlerweile richtig, so dass das Wasser an der Zeltwand herunterrauscht. Ob Oktober nun wirklich eine passende Reisezeit in Lappland ist? Zumindest haben wir bisher noch keine anderen Wanderer getroffen - immerhin!
Der Morgen ist auffällig still – kein Regengeräusch mehr. Nur, wenn ich an die Zeltwand drücke knistert die so komisch!? Und überhaupt ist es im Zelt gar nicht mehr so warm.
Ein Blick vor das Zelt beruhigt und begeistert mich gleichermaßen: kein Meter Neuschnee, sondern strahlend blauer Himmel, keine Wolke über uns, nur das Überzelt ist steif gefroren! Schnell eine Schale Müsli, das noch immer recht unflexible Zelt in den Rucksack gepackt und ab in Richtung Mikka bevor das Wetter wieder umkippt!
Nach den tristen Grautönen der letzten Tage erleben wir heute einen wahren spätherbstlichen Farbenrausch. Die letzten Beeren hängen noch an den Stauden und sorgen für satte Rottöne zwischen dem gelben Gras. Unten schlängelt sich der immer noch milchig-blaue Rapaätno durch sein Kiesbett. Auf der anderen Talseite dominieren das tiefe Schwarz der Steilwand des Ålkatj und das Grau-Blau der schmutzigen, von Gesteinsschutt bedeckten Gletscher.
Wir bleiben stehen und genießen den Blick hinunter auf den Ursprung des Rapaätnos, dem Zusammenfluss zahlreicher Gletscherbäche im Bereich Skarja südlich der Mikkastugan. Die Wärme der Sonne tut so richtig gut und wir können zum ersten Mal seit einigen Tagen wieder ohne Gore-Jacke laufen.
Leider ziehen schon wieder ein paar Wolken auf und als wir Mikka erreichen pfeift ein frisches Lüftchen den Gletscher herunter.
Jetzt könnten wir ihn eigentlich sehen, den Sarek-Hauptgipfel, wenn er sich nicht in den Wolken verstecken würde!
Was sich nicht vor uns versteckt, aber dennoch unerreichbar ist, ist die Brücke über den dahintosenden Smájillájåhkå. Die liegt nämlich gut gesichert neben der Hütte am gegenüberliegenden Ufer. Typisch! Da finden wir eine von zwei existierenden Brücken im gesamten Nationalparksgebiet und dann müssen wir doch zu Fuß durch den Bach!
Aus Respekt vor dem auch bei Niederwasser imposanten Wasserfall vor der Hütte gehen wir jedoch noch einige Meter flussaufwärts. Heute ist der Bach nur etwas mehr als knietief, bei mehr Wasser möchte ich hier jedoch nicht hindurch müssen!
Bei der kurzen Pause im Windschatten der Hütte tragen wir uns auch noch schnell ins Buch der Fjällrettung ein.
Der Weg hinauf in Richtung Guohpervágge ist problemlos, und so sind wir bald wieder mit einer Flussquerung beschäftigt, diesmal der breite, aber eher seichte Guohperjåhkå. Inzwischen ist es unangenehm windig und kühl geworden und deshalb versuchen wir die Querung ohne nasse Füße hin zu bekommen.
Es muss schon ein wenig seltsam aussehen, wie zwei große, rote Rucksäcke auf den Felsplatten im Fluß hin und her springen. Nach einigen Fehlversuchen sind wir dann doch noch drüben angelangt und erreichen bald darauf den weithin sichtbaren Rentierzaun.
Kurz darauf verführt uns eine weiche moosige Fläche zum Bleiben. Ein böser Fehler, wie wir am nächsten Morgen merken sollten...
Doch noch war die Welt in Ordnung! Phantastische Lichtspiele am gegenüberliegenden Berghang und dessen Gletschern unterhalten uns beim Abendessen. Trotz des sehr starken und böigen Windes steht unser Keron 3 wie festgeschraubt. Ein 11 mm Gestänge macht es möglich! Die ganze Nacht hindurch tobt der Wind unablässig.
Gegen Morgen nimmt er noch an Stärke zu, so dass das Zeltgewebe knallt, wenn eine Böe kommt. Jetzt kommt der Fehler, das Zelt so nahe an einem Talkessel mit mehreren Eingängen aufgestellt zu haben zum Tragen. Auf einmal beginnt der Wind verrückt zu spielen, rotiert im Talkessel und drückt abwechselnd von allen Seiten auf unsere Behausung. Da wir direkt unter einer fast senkrechten Felswand zelten, saust der Wind dummerweise auch als Fallwind von oben herunter. Plötzlich gibt es einen Knall und wir haben das Zelt inklusive zweier Bögen auf den Beinen. Nur die Stange über unseren Köpfen hält der Belastung noch stand.
Au weia – Bogen gebrochen, schießt es mir durch den Kopf und das ausgerechnet beim Verlagszelt, das mir Jürgen zu treuen Händen geliehen hat! Mit einem zweiten Schlag steht das Zelt wieder aufrecht da, fast so als ob nichts war. Nichts wie raus aus dem Schlafsack, der nächste Windstoß ist schon im Anmarsch! Da ich wenigstens einen Bogen retten will, stemme ich mich so gut es eben geht mit dem Rücken gegen das Gestänge – mit dem Erfolg, dass ich dieses Mal mit dem Zelt zusammen auf den Boden gedrückt werde.
Sobald das Zelt wieder aufklappt, flitze ich hinaus und finde auch ziemlich schnell den Grund für das Malheur: der Sturm hat zwei Heringe aus dem weichen Boden gerissen und dem Zelt somit die Stabilität genommen.
Nur gut, dass wir am Abend vorher alle unsere Sachen sorgsam in den Rucksäcken verstaut haben. Während ich draußen das Zelt so gut es geht festhalte, packt Silke drinnen die Rucksäcke in Rekordzeit (nur Frühstück hat sie keines mehr gemacht!).
So alles in allem sind wir nach etwa 15 Minuten angezogen und abmarschfertig. Wir flüchten das Álggavágge hinauf und müssen trotz der schweren Rucksäcke immer wieder aufpassen, dass wir nicht umgeblasen werden.
An einer windgeschützten Stelle gibt es schließlich doch noch ein kurzes Frühstück. Dann geht es weiter durch immer verwachsener werdende Schlammpassagen dem Álggajávrre entgegen.
Die ursprüngliche Idee, durch das Niejdariehpvágge ins Sarvesvagge hinüberzuqueren, um von dort über Luohttoláhko und durch das Njoatsosvágge nach Kvikkjokk zu gelangen, lassen wir beim Anblick des Hochtals ganz schnell wieder fallen. Bei gutem Wetter vielleicht, aber nicht wenn wir im Álggavágge schon beinahe davonfliegen!
Also quälen wir uns weiter durch knöcheltiefen Schlamm und nasses Gestrüpp bis wir am frühen Nachmittag endlich die Alkavare-Kapelle erreichen. Es mag vielleicht etwas pietätlos wirken, sich in einer Kirche zur Brotzeit niederzulassen, aber nach gut 15 Kilometern Hindernislauf tun ein paar Schluck heißen Tees bei Windstille wirklich Not.
Hier bleiben wollen wir aber doch nicht, obwohl die Einträge im Gästebuch von einigen „Notübernachtungen“ zeugen.
Also auf zur Alkastugan! Nur liegt diese alte Hütte auf der südlichen Seite des Álggajávrre und dessen Abfluss, dem Miellädno, und wir stehen am Nordufer. Beim Näherkommen entdecken wir an beiden Seiten kleine Boote, eines auf unserer Seite, zwei weitere auf der gegenüberliegenden. Demnach gibt es keine nassen Füße, freuen wir uns!
Die Szenerie allerdings ist beängstigend: bleischwere, tiefdunkelschwarze Wolken hängen zwischen den Gipfeln des Álggavágge, aus dem immer noch Wind in Sturmstärke bläst. Die Wellen weiter draußen haben kleine Schaumkronen und der Seeabfluss lädt zur Wildwasserfahrt ein. Na prima!
Das Hinüberrudern klappt wider Erwarten einigermaßen zufriedenstellend: Will heißen, wir sind angekommen – gut, dass keiner gesehen hat wie!
Eigentlich müsste ich jetzt ein zweites Boot mit zurücknehmen und damit wieder retour rudern, nur macht der Sturm mit dem jetzt unbeladenen Kahn bereits was er will. Nach langem hin und her rudere ich Boot Nummer eins alleine zurück und vollführe dabei eine Kreiselbewegung nach der anderen.
So wie Silke lacht, muss die Aktion zumindest optisch etwas hermachen – ich fühle mich weniger gut!
Zu guter Letzt wate ich halt doch noch durch die um einiges mehr als knietiefe Furt. Zum Glück ist es jetzt nicht mehr weit bis zur Hütte. Kaum hat Silke die Tür geöffnet, huscht schon die erste Maus quer durch den Raum... vielleicht sollten wir doch das Zelt aufstellen?! Das Gestänge müssen wir ohnehin noch überprüfen, und oh Wunder, trotz der heftigen Aktion vom heutigen Morgen muss ich nur ein Segment austauschen, weil es verbogen ist!
Der nächste Tag ist so richtig frustrierend! 15 Kilometer Gewaltmarsch bei strömendem Regen, heftigem Wind und Temperaturen von knapp, ganz knapp, über Null Grad. Die Mittagspause wollen wir im Windschutz einer Rentierhütte verbringen.
Leider entpuppt sich die Umgebung der neu hergerichteten Hütte als einziger Müllhaufen! Glas und Metallschrott teilt sich die Landschaft mit verbrannten Matratzen und reichlich Plastikfolien. Trotz des miesen Wetters heute wirkt das wie ein Schlag ins Gesicht.
Am oberen Taleingang des Njoatsosvágges haben wir endlich den höchsten Punkt für heute erreicht.
Hier hatten wir im Frühjahr vor fünf Jahren einmal eine riesige Schneeburg als Windschutz für unser Zelt stehen und bei strahlendem Sonnenschein traumhafte Skitouren auf die umliegenden Gipfel unternommen. Heute geht es nur noch runter in die Tarraluoppalstugorna am Padjelantaleden. Kurz bevor es stockdunkel ist haben wir es geschafft und sitzen bei heißem Tee und auf höchster Stufe laufender Gasheizung endlich im Trockenen.
Die folgenden 15 Kilometer führen uns weitgehend auf den Bohlen des Padjelantaledens ganz unspektakulär nach Såmmerlappa. Für uns war es eine seltsame Erfahrung. Schließlich sind wir diese Strecke schon vier Mal zuvor gelaufen, jedoch immer im Winter und so sehen wir das obere Tarradalen nun zum ersten Mal ohne Schnee.
Kurz vor den Hütten finden sich auffällig große Haufen von kaum verdauten Heidelbeeren mitten auf dem Wanderweg. Ein paar Wochen später stoßen wir zu Hause in einem Fährtenbuch auf den Verursacher solch hutgroßer Losung: Braunbären! Ob wir unser Zelt mit diesem Wissen immer noch seelenruhig keine 200 Meter davon entfernt aufgestellt hätten?
Am Morgen dann endlich die Lichtstimmung, auf die ich schon die ganze Zeit warte! Ganz oben lugt zwischen den tiefhängenden Wolken der erste frische Schnee herunter. Unterhalb der 1000-Meter-Linie zeigt sich der dunkelgrüne Streifen der Fjällmatte und geht bald darauf in blattlos schwarzen Birkenwald über. Abgerundet wird das Ganze durch einen strohfarbenen Grasgürtel an den Ufern des Tarraätnos entlang.
Alle Farben wirken trotz des schwachen Lichts satt und kräftig. Mit einem stabilen Stativ für die langen Belichtungszeiten ein absoluter Fototraum.
Vor etlichen Jahren bekam ich in einem alten, aber höchst empfehlenswerten Bildband über Lappland aus dem Time-Life Verlag Fotos von Toby Molenaar zu Gesicht, die den Sarek Park im ersten Schnee des Oktobers zeigen. Solche Bilder wollte ich daraufhin selbst machen! Auch wenn mein Ergebnis nicht die feinen Unterschiede der Graustufen der monochromen Lichtstimmung wiedergeben, wie es im Buch der Fall ist, tut das meiner Begeisterung für diese Zeit keinen Abbruch.
Inzwischen wird es schon wieder duster und wegen der Fotografiererei sind wir heute nur bis zu den Hütten von Tarrekaise gekommen. Auch nicht schlimm. Schlimm sind nur die Spuren der Verwüstung die das Hochwasser der letzten Schneeschmelze hinterlassen hat. In Såmmerlappa saßen dem Hüttenbuch nach einige Wanderer tagelang vom Hochwasser eingeschlossen fest und konnten nur hoffen, dass der kleine Bach hinter der Hütte nicht noch mehr Schmelzwasser vom Tarrekaise-Massiv herunterbringen würde und damit die Hütte doch noch mitspült. Um Tarrekaise herum zeigen sich ebenfalls tief ausgewaschene Rinnen, die vom gleichnamigen Bergmassiv herunter führen.
Gegen fünf Uhr werde ich langsam wach und wundere mich, warum sich Silke scheinbar gar nicht still halten kann, während sie schläft. Es raschelt unentwegt bei ihren Füßen! Endlich finde ich sowohl die Stirnlampe als auch meine Brille, um zu sehen, was da los ist.
Ich staune nicht schlecht. Sitzt doch tatsächlich auf dem Fußteil von Silkes Schlafsack eine Maus und grinst mich an! Angelockt vom Packsack mit unserem Frühstück hat sich der kleine Nager durch den Stoff des Innenzeltes gefressen und sich am kalten Büffet bedient. So leicht lässt sich das Biest aber nicht vertreiben. Nach einer wilden Jagd (für was hat man schließlich ein drei Personen Zelt!?) habe ich die Maus endlich in der Hand. Nur was jetzt? Den Hals umdrehen kann ich dem Viecherl ja doch nicht. Also werfe ich die Maus so weit ich kann in den Wald hinein und krieche wieder zurück in den Schlafsack. Keine fünf Minuten später sitzt auch die Maus wieder auf der Primaloft-Tüte! Na ja – früh aufstehen hat ja auch noch nie geschadet.
Leider ist heute auch der Regen wieder bald aufgestanden. Als wir ein paar Stunden später an der Njunjesstugan vorbeilaufen, können wir der Versuchung nicht widerstehen und beschließen eine Kaffeepause im Trockenen einzulegen. Weil es uns nach der fünften Tasse überhaupt nicht mehr nach draußen in den Schnürlregen zieht, packen wir einfach wieder die Schlafsäcke aus und schmökern bei bollerndem Kanonenofen in uralten schwedischen Comics.
Der folgende Tag bestätigt die Richtigkeit unserer Entscheidung. Die letzten Kilometer zurück nach Kvikkjokk legen wir wenigstens bei trockenem Wetter zurück.
Kopfzerbrechen macht uns nur die letzte Flussquerung. Der regelmäßige Bootsservice über den Gamajåhkå ist natürlich Mitte Oktober schon lange eingestellt.
Theoretisch könnte man versuchen knapp unterhalb der Kaskaden zu furten. Doch wie bestellt erscheint auf einmal Björn am anderen Ufer und ist wenige Minuten später bei uns. Er hätte sich gerade gedacht, wir würden heute zurückkommen und deshalb wollte er mal nachsehen, erzählt er uns beim Zurückrudern.
Der darauf folgende Morgen empfängt uns mit strahlendem Sonnenschein und wolkenlosem Himmel...
Oktober 2000
Nachtrag: Sehenswerte Luftaufnahmen vom Sarek-Gebiet gibt's auf der unglaublichen Homepage von Arnt Flatmo!
Für weitere Infos in Sachen Bootstransfer in Kvikkjokk gibt die Homepage unseres Freundes Björn Sarstad Auskunft.
Seine Freundin Helena Adolfsson betreibt in Kvikkjokk eine kleine aber feine Kunstgalerie.
Literatur: Fjällkartan "BD 10 - Sareks Nationalpark", 1:100.000
"Lappland - Das Alaska Europas" von Erlend & Orsolya Haarberg, National Geographic Verlag